Was ist denn nun „Systemisches Coaching“?

Was ist denn nun „Systemisches Coaching“?

Was ist denn nun „Systemisches Coaching“?

Der Hype des Systemischen scheint momentan nicht zu bremsen. Wer aktuell „Systemisches Coaching“ oder „Systemische Beratung“ oder auch „Systemische Familientherapie“ oder gar „Systemisches Familienaufstellen“ anbietet, kann sicher sein, dass sich genügend Abnehmer finden. Dabei wissen die meisten Menschen gar nicht genau, was das eigentlich ist: „Systemisch“. Hier der Versuch einer (Er-)Klärung.

Systemisch hat nichts mit „systematisch“ zu tun (auch wenn die Worterkennung mancher PCs und Smartphones das immer meint). Systemisch denkt, wer das lineare Denken nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip aufgibt und zulässt, dass erst einmal (scheinbar) das Chaos ausbricht und sich eine Fülle von Informationen, Verknüpfungen und Möglichkeiten auftut.

Dazu ein aktuelles Beispiel: Seit das Spiel „Pokemon Go“ auf dem Markt ist, hat die Nintendo-Aktie ein beispielloses Hoch erlebt. Warum? Weil alle, alle, alle das Spiel haben wollen und mit der großen Nachfrage in Verbindung gebracht wird, dass automatisch die Gewinne des Konzerns steigen werden (Ursache-Wirkungs-Prinzip). Aber nun bricht die Aktie plötzlich ein - warum? Nintendo hat eine Gewinnwarnung herausgegeben, da die Gesamtlage des Konzerns eben nicht nur von diesem einen Spiel abhängt, sondern von vielen anderen Faktoren: Weltwirtschaftslage, Verkaufszahlen über alle Sparten hinweg, Ausgaben, aktuelle Konkurrenz-Angebote etc. Wenn man das also insgesamt in den Blick nimmt, kann trotz des Riesenerfolges mit Pokemon Go eine rückläufige Gewinnentwicklung möglich sein. Ein altes Sprichwort verdeutlicht das: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!“ Sie sehen also: „Systemisch“ ist quasi ein Synonym für „komplex“!

Aber: Die Komplexität war schon immer im System, wir haben sie bloß sichtbar gemacht. Aus dieser Komplexität gilt es dann unterschiedliche Möglichkeiten zu generieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Systemisches Denken bedeutet also mehrperspektivisch, umfassend und hinterfragend zu denken und zu fragen.

Einige Grundsätze aus der Systemtheorie seien an dieser Stelle genannt:
•  Ein System organisiert sich selbst und strebt immer nach Stabilität.
•  Explizite und implizite Regeln erhalten das System.
•  Systeme sind dynamisch und komplex.
•  Jedes Verhalten im System macht Sinn – für das System oder für einen Teil des Systems/das Individuum (zur Erhaltung eines stabilen Zustandes).

Wenn Sie das Wort „System“ in der Aufzählung einmal durch „Behörde“ ersetzen, wird schnell deutlich, was gemeint ist.
So, und was ist nun „Systemisches Coaching“? Zunächst einmal geht es dabei um eine Haltung bei mir als Coach. Die systemische Grundhaltung bedeutet:

• Nichts ist so einfach wie es aussieht: Es gibt nicht nur schwarz-weiß, gut-böse, leise oder laut, es gibt viele Zwischentöne! Auf die muss ich lauschen. Der Kontext spielt immer eine Rolle.

• Alles, was im System geschieht, basiert auf dessen Autonomiestreben und macht demzufolge Sinn – und ich zolle diesem Umstand Respekt und Wertschätzung.

• Für alle Schwierigkeiten und Probleme enthält das System bereits eigene Ressourcen – sie müssen nur entdeckt und genutzt werden. Das entlastet mich als Coach ungemein: Nicht ich bin für Erfolg und Lösungen zuständig, sondern diene (ja, etwas Demut tut auch gut!) dem System wie ein Katalysator.

• Ich versuche, unbedingte Unparteilichkeit zwischen Beteiligten und Neutralität gegenüber Zielen, Lösungen und Konstrukten zu pflegen, auch wenn es nur allzu menschlich ist, dass mit hin und wieder doch mal eine Bewertung passiert...
• „Professionelles Nichtwissen“ über system-immanente Details hilft mir, den Blick auf das Ganze gerichtet zu halten und mich nicht in Problemtrance zu verlieren, sondern in die Zukunft gerichtet und lösungsorientiert zu arbeiten.

Natürlich geht es auch um Methoden. Da arbeite ich als Coach zunächst mit Hypothesen. Das sind Ideen, Assoziationen und reflektierte Erfahrungen, die als Grundlage für meine Fragen dienen. Sinn der Fragen ist es, die mehr Informationen zu liefern – übrigens eher meinem Coachee als mir.
Klassisch sind hier vor allem die zirkulären Fragen zu nennen, z.B.: „Was glauben Sie (Mitarbeiterin): Was denkt Ihr Chef darüber?“ oder: „Was meinen Sie (Chef): Wie denkt Mitarbeiter Y über Mitarbeiterin Z?“ Wir holen also im Systemischen Coaching alle relevanten Personen mit in den Coaching-Kontext – natürlich nicht real, aber sie sind in der Repräsentation beim Coachee ohnehin im Gespräch mit dabei. Wunderbar ist, wenn die verschiedenen beteiligten Systeme/Personen visualisiert werden, z.B. Genogramme (ganz simpel mit Streichhölzern, Spielfiguren, Papier und Stift oder auch mit dem sog. „Systembrett“). In der Visualisierung entwickeln sich oft Ideen, neue Hypothesen und erste Lösungsansätze beim Coachee, denn die Komplexität sortiert und lichtet sich in der Darstellung in Bild, Symbol und Worten (Metaphern) bereits.

Erhellend ist oft die Arbeit mit Methoden, die Unterschiede verdeutlichen, z.B. die Arbeit mit Skalierungen (z.B. Zeitstrahl: Vorher-Nachher-Bewertung) oder mit dem „Reflecting Team“ zur Verdeutlichung unterschiedlicher Sichtweisen. Auch interaktive Methoden wie Rollenspiele und Familienskulpturen können zum Einsatz kommen.

Puh, das war jetzt aber ein langer Blog-Eintrag! Tja, das Systemische ist eben immer komplex – und das lässt sich eben nicht auf einer Seite darstellen, sondern eher auf zwei...